Moment #8 : LeseZeit

Gestern bin ich auf einen Beitrag eines Berufskollegen gestossen, der mich sehr angesprochen hat.

Der Arzt, Dozent & Achtsamkeitslehrer Bernd Langohr hat einfach zusammengefasst, um was es geht – und geht auch der Frage nach, ob Achtsamkeit die Antwort auf alle unsere Fragen und Probleme darstellt.

Ich wünsche gute Lektüre.

Kultivieren Sie Ihre innere Ruhe

Eine Quelle der Energie liegt in der Kraft des Gegenwärtigseins. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit – und tauchen Sie ein.

Bernd Langohr (Arzt, Dozent & Achtsamkeitslehrer) im sanitas Health Forecast 2023

In Zeiten, in denen sich Krisen aneinanderreihen und Altvertrautes ins Wanken gerät, erleben viele Menschen in erheblichem Masse Stress. Hält dieser Zustand zu lange an, wird die biologische Stressreaktion – ein sinnvoller Überlebensmechanismus, der unserem Organismus ermöglicht, sich an neue und herausfordernde Situationen anzupassen – jedoch selbst zum Problem. Denn permanenter Stress führt auf Dauer zu körperlicher und seelischer Erschöpfung und zu Krankheit. Wo finden wir also neue Kraft, Energie und Lebensfreude, wenn da draussen so viel Unsicherheit herrscht?

Auf diese Frage hat die Achtsamkeit Antworten. Bei diesem Begriff denken viele noch immer an Wellness und Esoterik. Weit gefehlt: Mittlerweile gibt es unzählige wissenschaftliche Studien, welche die Wirkung der Achtsamkeit (auf Englisch: «Mindfulness») belegen. Dazu zählt unter anderem die Verbesserung der Aufmerksamkeitslenkung, der Körperwahrnehmung und der emotionalen Regulationsfähigkeit. Dies wiederum vermindert messbar depressive Stimmungen, Ängste sowie Stress und erhöht das allgemeine Wohlbefinden.

Achtsam zu sein bedeutet, aufmerksam wahrzunehmen, was gerade geschieht, ohne es zu bewerten. Das umfasst einerseits, ganz gegenwärtig zu sein für das innere und äussere Erleben – in Form von sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen und denken. Andererseits beinhaltet Achtsamkeit, dass wir diesen Erlebnissen mit einer offenen und unvoreingenommenen Haltung begegnen.

Vielleicht möchten Sie gerade jetzt für einen Augenblick beim Lesen innehalten und einmal durchatmen. Wie fühlt sich der Kontakt mit der Sitzunterlage an? Können Sie Ihre Füsse spüren?

Bemerken Sie Körperstellen, die entspannt oder angespannt, warm oder kühl sind? Genau das einfach wahrzunehmen, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen: Das ist Achtsamkeit.

 

Weniger grübeln spart Energie

Das mag banal klingen. Unser Alltagsmodus besteht jedoch darin, dass sich unsere Aufmerksamkeit gewohnheitsmässig in Gedanken an Vergangenes und Zukünftiges bewegt und wir vieles im Hier und jetzt verpassen. Zugleich tendieren wir dazu, die Gegenwart zu bewerten, zu kritisieren oder sie anders haben zu wollen. Dieser Modus ist vergleichbar mit einem Autopiloten im Flugzeug, der uns zwar viele Handlungen und Routinen abnimmt, uns aber dazu verleitet, nicht wirklich anwesend zu sein.

Wie oft kommt es vor, dass wir beispielsweise beim Essen oder Duschen die damit verbundenen angenehmen Sinneseindrücke gar nicht mitbekommen, weil wir innerlich bereits beim nächsten Termin sind? Eine Studie der Harvard University hat gezeigt, dass Menschen beinahe die Hälfte ihrer wachen Zeit gedanklich mit etwas anderem beschäftigt sind als mit dem, was sie gerade tun. Und das, so die Studie, trägt zur inneren Unzufriedenheit bei.

Die fantastische evolutionäre Errungenschaft des Denkens, die es uns ermöglicht, zu abstrahieren, zu planen oder zu erinnern, kann uns also auch belasten – insbesondere, wenn unproduktive Sorgen oder Grübeleien überhandnehmen.

Dagegen kennen wir alle auch Momente, in denen wir ganz präsent sind und uns besonders lebendig fühlen. Das sind häufig sinnliche Erfahrungen, für die wir ausreichend Zeit und Musse haben – sei es bei einem Spaziergang in schöner Umgebung, beim Betrachten eines Sonnenuntergangs, beim Besuch eines Konzerts oder einfach bei der Gartenarbeit. Gedanken an andere Dinge treten dabei in den Hintergrund, die Zeit dehnt sich aus oder spielt keine Rolle, etwas in uns kommt zur Ruhe, und es entsteht ein Gefühl von Stimmigkeit. Genau das sind achtsame Momente; ob wir es so nennen oder nicht. Im Hier und Jetzt zu sein, fällt uns in jungen Jahren noch recht leicht: Schauen Sie sich Kinder an, die beim Spielen alles um sich herum vergessen, oder erinnern Sie sich an Ihre Kindheit. Als Erwachsene erleben wir dagegen oft, dass wir zu wenig Zeit haben. Wir tragen die Verantwortung für so vieles und sind darauf angewiesen, Pläne zu machen, Fristen einzuhalten, auf Nachrichten zu reagieren und alle Aufgaben und Termine irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Doch selbst stressigen Situationen können wir achtsam begegnen. Es ist jedoch nicht damit getan, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Auch wenn das bereits hilft, können wir nicht erwarten, den Stress einfach wegatmen zu können. Die Übung besteht darin, innezuhalten und bewusst wahrzunehmen, was den Stress verursacht und wie er sich im Körper, in Gefühlen und Gedanken auswirkt. Dadurch kommen wir wieder in Kontakt mit uns selbst, erhalten zugleich mehr Abstand zur Situation und können diese selbstwirksamer gestalten. Langfristig hilft uns das, eigene stresserzeugende Gewohnheiten zu ändern und stressauslösende Situationen zu vermeiden. So sparen wir viel Energie ein, die wir sonst unnötig verschwenden.

 

Das Geschenk der Praxis

Damit uns die Achtsamkeit auch inmitten des Alltagsgetümmels nicht abhandenkommt, ist es notwendig, sie zu einer inneren Haltung zu machen. Das braucht regelmässiges Training:

Durch Meditation im Sitzen, Liegen, Gehen und in Bewegung sowie durch Üben während alltäglicher Aktivitäten wird die Fähigkeit zur Achtsamkeit gestärkt, genau wie ein Muskel durch wiederholtes Training kräftiger wird. Der Kern der Übung besteht darin, mit der Aufmerksamkeit auf freundliche Weise zum gegenwärtigen Erleben zurückzukehren, wann immer wir gedanklich abgeschweift sind. Dabei geht es nicht darum, zu versuchen, die Gedanken loszuwerden, sondern darum, sich ihrer bewusst zu werden. Das eröffnet uns die Möglichkeit, Dinge ganz anders und oftmals gelassener zu betrachten.

Als systematische Praxis hat die Achtsamkeitsmeditation ihre Wurzeln in der jahrtausendealten buddhistischen Tradition. Um sie einem breiten Spektrum von Menschen im Westen zugänglich zu machen, entwickelte der US-amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn Ende der siebziger Jahre das weltweit populär gewordene achtwöchige MBSR-Training «Mindfulness-Based Stress Reduction» – auf Deutsch: Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Dieses Format, das frei von traditionell religiösen Bezügen ist und Erkenntnisse der modernen Stressforschung integriert, wurde von Anfang an wissenschaftlich erforscht, sodass mittlerweile unzählige Studien belegen, dass regelmässige Achtsamkeitspraxis bereits über einen Zeitraum von wenigen Monate viele positive Wirkungen entfaltet.

Dies trägt dazu bei, dass sich immer mehr Menschen für Achtsamkeit und Meditation interessieren. Laut Umfragen in Deutschland und den USA hat etwa jede beziehungsweise jeder sechste Erwachsene bereits Erfahrung mit Meditation gemacht.

In vielen Ländern gibt es Projekte, um Achtsamkeitsprogramme an Schulen und Hochschulen sowie an Kliniken und in Gefängnissen zu etablieren. Und eine wachsende Zahl von Unternehmen bietet im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge ihren Mitarbeitenden Achtsamkeitstrainings an. Dies, weil Studien zeigen, dass dadurch das Stresserleben gesenkt und vor allem die psychische Gesundheit verbessert wird.

Dabei ist entscheidend: Die Achtsamkeit ist kein Werkzeug zur Selbstoptimierung. Wenn sie auf eine Technik reduziert wird, die zum Ziel hat, uns immer höher, schneller und weiter in ungesunden Hamsterrädern laufen zu lassen, verkommt sie zur «McMindfulness». Damit verliert sie, ähnlich wie beim Fast Food, einen Grossteil dessen, was wirklich nährend an ihr ist. Jon Kabat-Zinn formuliert es so:

«Die zentrale Einladung der Achtsamkeit besteht darin, dass Sie sich mit sich selbst anfreunden. Das bedeutet, dass Sie Ihre eigene innere Ganzheit und Schönheit im einzigen Moment, den Sie jemals haben, erkennen und bewohnen – nämlich in diesem jetzt.»

Die Praxis der Achtsamkeit ist im Grunde ein Geschenk an uns selbst, das uns erlaubt, immer wieder neu ins innere Gleichgewicht und in die eigene Kraft zu kommen. Da dies viel Geduld benötigt und es herausfordernd sein kann, sich für das Üben von Achtsamkeit extra Zeit zu nehmen in einem übervollen Alltag, ist es sinnvoll, alle Unterstützung zu nutzen, die wir dabei bekommen können. Dafür steht eine grosse Auswahl an Büchern und Apps zur Verfügung. Ein noch fundierterer Zugang zur Achtsamkeitspraxis bieten Kurse wie das MBSR-Achtsamkeitstraining sowie Meditations-Retreats im buddhistischen oder christlich-kontemplativen Kontext, wo man sich gemeinsam mit anderen auf den achtsamen Weg begibt.

 

Heisst das nun, dass Achtsamkeit die Antwort auf alle unsere Fragen und Probleme darstellt?

Sicher nicht! Aber sie ist eine Grundlage dafür, um trotz aller Turbulenzen und Unwägbarkeiten, die stets Teil unserer Realität sein werden, mit uns selbst verbunden zu bleiben und mit mehr Energie und Freude durchs Leben zu gehen. 

So geht Achtsamkeit weit über blosse Stressreduktion hinaus. Wenn wir sie wirklich verinnerlichen, trägt sie zu einer Kultur der Wertschätzung und der Verbundenheit bei und unterstützt uns darin, gemeinsam weisere Entscheidungen für uns und unseren Planeten zu treffen.

 

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